Oliver Brüchert: Die eindimensionale Hochschule - Der Umbau der Hochschule aus kritisch-theoretischer Sicht

uni  unimut 

Donnerstag, 21.01.2010 18.15 Uhr

Neue Uni, ehemaliger Senatssaal

Vortrag und Diskussion

In der Vorrede zum "One-Dimensional Man" schrieb Herbert Marcuse 1964 "Der Eindimensionale Mensch wird durchweg zwischen zwei einander widersprechenden Hypothesen schwanken: 1. daß die fortgeschrittene Industriegesellschaft imstande ist, qualitative Änderung für die absehbare Zukunft zu unterbinden; 2. daß Kräfte und Tendenzen vorhanden sind, die diese Eindämmung durchbrechen und die Gesellschaft sprengen können." (zitiert nach der deutschen Ausgabe bei Luchterhand 1967, S. 17)

Wer sich mit dem aktuellen Umbau der Hochschulen beschäftigt, ist geneigt, diesen im Sinne der ersten Hypothese zu interpretieren als radikalen Bruch mit einer der letzten gesellschaftlichen Institutionen, die zumindest die Möglichkeit einer "qualitativen Änderung" enthielt. Statt kritischem Denken und emanzipativem Potential herrscht nur noch Anpassungsdruck und Berufsorientierung; statt gesellschaftlicher Verantwortung nur noch ökonomische Verwertungslogik; statt Freiheit nur noch Zwang; statt selbstbestimmtem Studium nur noch Verschulung und Prüfungsdruck; statt Bildung nur noch Halbbildung. Das kann und muss man tatsächlich immer wieder in dieser Drastik festhalten. Die neoliberalen Reformen im Bildungsbereich sind ein Einschnitt, dessen Folgen uns noch über Generationen beschäftigen werden.

Dialektisches Denken im Sinne einer kritischen Theorie der Gesellschaft (namentlich der Kritischen Theorie mit großem "K") verlangt aber, dass wir über diese Sicht der Dinge hinaus gehen und nach Widersprüchen fragen. War nicht die Hochschule bereits vor dem Umbau eine strukturell konservative Institution, die sich emanzipatorischen gesellschaftlichen Bewegungen nur partiell und auf massiven Druck von außen hin geöffnet hat? Beherrschten nicht professorale Mehrheit und feudale Strukturen die akademische Selbstverwaltung? Gab es nicht allerorts soziale Selektivität und Elitedünkel? Waren nicht in weit überwiegender Zahl die Professoren Männer?

Die Hochschulen waren nie einfach ein Hort der Emanzipation und des demokratischen Fortschritts. Ihr neoliberaler Umbau trägt sicher nicht dazu bei, dass sie es werden. Die Bedingungen für kritische Studierende und kritische WissenschaftlerInnen sind vielerorts schwieriger geworden, als sie es ohnehin schon waren. In dem Maß, in dem sich kritisches Denken an den Hochschulen einnisten konnte, diente "Wissenschaft" durchaus als Ressource, als Möglichkeit des Lohnerwerbs jenseits kapitalistischer Verwertungslogik, als Quelle von "Reputation" und als institutionalisierter Austausch von Texten, Forschungsergebnissen und Ideen.

Aber was bedeutet das für die "Kräfte und Tendenzen", die diese Gesellschaft sprengen können? Zunächst einmal, sich darauf zu besinnen, dass Gesellschaftskritik nicht bevorzugt und in erster Linie von den Hochschulen ausgeht, sondern viele "Orte" hat, die möglicherweise wieder an Bedeutung gewinnen, wenn die Hochschulen und die mit ihnen verbundenen Riten und Zurichtungen der Individuen nicht mehr so eine beherrschende Stellung (auch für das kritische Denken) einnimmt. Das schafft Raum für neue Solidaritäten, neue Formen des Protests, neue experimentelle Formen einer anderen Lebensweise -- die freilich wieder im Sinne Marcuses erster Hypothese einer Kritik zu unterziehen wären.

Langtexte kommen meist von den VeranstalterInnen. Das Sozialforum ist hier nur Bote.